Geschichte

Wangener Kirbe 1951

Auswertung des Zeitzeugen-Interviews mit Albert Gohl

 Gerade in Zeiten, in denen Exkursionen ins Wasser fallen und ein Interview mit einer Zeitzeugin in letzter Minute abgesagt werden muss, erinnert man sich daran, wie besonders solche Momente sind. Und wie wichtig, damit ein Fach wie Geschichte erlebbar wird.

Und besonders erinnere ich mich an das Zeitzeugeninterview, das eine kleine Dreiergruppe mutiger Schüler*innen mit meinem Opa geführt hat, ein gebürtiger Wangener, der selbst in Kriegszeiten die „Lindenschule“ besucht hat. Hier kommt alles zusammen, nicht nur die persönliche Verbindung, sondern auch die lokale. Und noch wichtiger ist dieses Gespräch für meinen am 5. Juni 2019 88-jährign Opa. Er hat so lange auf diesen Termin hin gefiebert und sich die Worte zurechtgelegt, dass meine Schüler*innen sich ganz schön ins Zeug legen müssen, um auch mal zu Wort zu kommen. Ich jedenfalls erinnere mich gerne.

(Leni Rothe)

KInderlandverschickung

 Eine Schulzeit in „schlechten Zeiten

Bericht zum Zeitzeugeninterview mit Albert Gohl (Nora Radke, 9a)

„Es war ein Glücksfall“, so der heute 88-jährige Albert Gohl. Dieser war zur Zeit des Zweiten Weltkrieges (1939-1945) im Alter zwischen acht und vierzehn gewesen und wuchs zusammen mit seinen beiden jüngeren Brüdern und seiner Mutter in Stuttgart Wangen auf. Mit diesen Worten beschrieb er nicht seine Jugendzeiten, sondern den Moment, wenn es ihm gelungen war, Brot zu besorgen. Als ältester Sohn sorgte er dafür, dass genug Essen auf den Tisch kam. Eine Aufgabe, die in der Nachkriegszeit nicht so einfach zu erledigen war. Vor den Bäckereien waren Meter lange Schlangen und wenn man Pech hatte, gab es kein Brot mehr, wenn man an der Reihe war, berichtete der heutige Vater von fünf Kindern. Und dann? Dann musste man Meilen weite Wege zu Fuß zurücklegen, um zur nächsten Bäckerei zu kommen und dort sein Glück zu versuchen. Zum Brotholen ging Albert Gohl nach Oberesslingen. Geld hatte keinen richtigen Wert mehr, weshalb man zur Zigarettenwährung überging. Öl aus Buchäckern beispielsweise, welches man bei Weilimdorf bekam, musste man mit Tabak bezahlen. Tabak baute seine Mutter an und brachte es zu einem Mann, der eine Nähmaschine umgebaut hatte und sie zum Tabakschneiden nutzte. Als Vesper bekam Albert zunächst Kartoffelpuffer von seiner Mutter mit, dann Maisbrot, das von den Amerikanern geliefert wurde. Es gab Essensmarken und das Essen war sehr knapp. Eine Situation, die man sich heute bei unserer Überproduktion nicht vorstellen kann. Seine Jugendzeiten bezeichnete er als „schlechte Zeiten“. Viele Jahre musste er ohne seinen Vater aufwachsen, denn der musste im Ersten Weltkrieg dienen und wurde im Zweiten Weltkrieg zur Überwachung von Brücken eingesetzt. Sein Vater hat seine Kinder gewarnt, vor den Leuten in der Partei nichts Falsches zu sagen. Ansonsten habe man nicht viel über den Krieg gesprochen, so die Aussage von Albert Gohl. Eingeschult wurde er in die Lindenschule, eine Volksschule, die heute aufgelöst ist. Heute heißt die Schule Wirtemberg-Gymnasium und sein Klassenzimmer, das Zimmer 115, welches direkt über dem Eingang Richtung Sängerhalle liegt, ist immer noch erhalten. Mit gleichaltrigen Mitschülern wird er während des Zweiten Weltkrieges im Rahmen der Kinderlandesverschickung in verschiedene Lager, u.a. nach Roth, Alpirsbach, gebracht, um auf dem Land aus der „Schussbahn“ zu sein. Dort wird er gemeinsam mit zehn bis zwölf Schülern von einem Lehrer mit Behinderung unterrichtet, der sich große Mühe gibt. Albert Gohl wächst entfernt von seiner Familie auf und sieht diese erst zu seiner Konfirmation wieder. Zu diesem Anlass fährt er hinten auf einem Militärfahrzeug nach Hause, um „Heimaturlaub“ zu machen. Die Fliegerangriffe der Amerikaner bei Tage und der Briten bei Nacht lassen die Erde vibrieren und die Bevölkerung muss andauernd mit Fliegeralarmen rechnen. Oft sind es zwei Angriffe pro Tag. Auch während der Konfirmation werden sie von Fliegerangriffen gestört, weshalb der Pfarrer nicht weiß, ob er mit dem Gottesdienst fortfahren soll. Der Pfarrer verharrt zehn Minuten unschlüssig auf der Kanzel, bevor der Angriff abflaut und der Gottesdienst weitergeht. Eine sehr riskante Entscheidung, denn es hätte ebenso in einer Katastrophe enden können. Solche Angriffe forderten viele Tote, wenn man nicht rechtzeitig in die Bunker kam. So kehrten auch nach der Konfirmation nicht alle Mitschüler in das Lager zurück. Erst als die Franzosen unmittelbar vor dem Lager stehen, wird das Lager aufgelöst. Aber nicht nur Menschen waren Opfer dieser Angriffe. Es wurden auch große Teile der Infrastruktur zerstört. So zerstörten zum Beispiel Fliegerangriffe über den Neckar den Gaskessel. Ziel waren die Daimler-Werke. Die Bahngleise in Wangen lagen unter tiefem Schutt begraben und unzählige andere Gebäude wurden zerstört, unter anderem viele Brücken und Häuser. Und das alles, obwohl sie verschiedene Verteidigungsanlagen besaßen. Gespannte Seile zwischen den Anhöhen über den Neckar sollten zum Beispiel gegen Tiefflieger schützen. Auf der Wangener Höhe sind bis heute Spuren von der Verteidigungsanlage sichtbar. Die Lindenschule wird während der Kriegszeiten als Kaserne genutzt. Die Möbel sind in einem Betrieb hinter der Sängerhalle eingelagert. Nachdem die Amerikaner Untertürkheim in ihre Besatzungszone eingegliedert haben, müssen die Schüler des älteren Jahrgangs, also Albert Gohl, „weil sie starke Kerle sind“, die Schule wieder einräumen. Das heißt für sie, dass sie neben dem Einräumen nur zwei Stunden Unterricht am Tag haben. Kohle musste selbst mitgebracht werden. Er hat quasi seine komplette Schulzeit im Krieg erlebt und nie richtig Schule gehabt. Im Mai 1946 beginnt seine Lehre als Zimmermann. Die Schüler haben keine Wahl, welche Ausbildung sie machen, denn sie werden vom Arbeitsamt zugeteilt. Einige wollen Automechaniker werden, aber nur ein Junge bekommt über Kontakte einen Ausbildungsplatz bei Kodak. Die anderen wurden unter anderem Maurer, Maler, Zimmermann und Bauarbeiter. Albert Gohl half beim Bau der Neckarbecken als Aufsichtsposition mit. Unter ihm arbeiteten bis zu 100 Arbeiter, berichtet er stolz. Rückblickend erinnert sich Albert Gohl an eine Begegnung mit einer Frau mit Kind, die mit einem Judenstern gekennzeichnet war. Auch er wusste, wie viele andere auch, dass Leute zum Beispiel nach Grafeneck abtransportiert wurden. Da über solche Themen aber nicht gesprochen wurde und da schon den Jüngsten die NS-Ideologie vermittelt wurde, blieb er mit seinen Beobachtungen allein. Albert Gohl erinnert sich aber auch an die große Solidarität in der Nachbarschaft. Also wie man sich gemeinsam half, beispielsweise bei Fliegerangriffen rechtzeitig den Bunker zu erreichen.

Der heutigen Jugend, also uns, rät Albert Gohl das Abitur zu machen. Anders als er damals haben wir heute die Chance auf eine gute Ausbildung und die Wahl unseres Berufes nach unseren Fähigkeiten und Wünschen. Wir müssen nicht mehr täglich ums Überleben kämpfen. Unser Alltag verläuft heute ganz anders als damals bei ihm. Die meisten von uns leben in einer Familie, in der man über alles reden kann. Wir haben eine funktionierende Infrastruktur, ausreichend Essen und neben der Schule noch Zeit für Hobbys. Das ist ein Leben, welches so nur im Frieden stattfinden kann. Wenn uns also Albert Gohl rät, unsere Chancen zu ergreifen und unser Leben aktiv zu gestalten, dann sollten wir diesen Rat unbedingt beherzigen, denn unsere Großeltern hatten diese Chance meistens nicht.

 (Ein Bericht von Nora Radke, damals Klasse 9a)

 Nachtrag:

Bei meinem nächsten Treffen mit meinem Opa, ist es ihm sehr wichtig, mir eine weitere Erinnerung mitzuteilen, die er bei dem Interview vergessen hat. Da gedruckte Zeitungen direkt nach dem Krieg noch verboten waren, habe es in der Unterführung nach Untertürkheim eine Wandzeitung gegeben. Bei der Kapitulation Japans am 2. September 1945 seien dort folgende Worte zu lesen gewesen, Rot auf Weiß:

„Frieden auf Erden. Nie wieder Krieg!“

Natürlich weiß mein Opa, dass sich diese Hoffnung nicht bewahrheitet hat. Trotzdem ist dies ein Wunsch, den er wahrscheinlich mit jedem Kriegsüberlebenden teilt.

Die Interviewer

 „Dieses Gespräch war für mich in vielerlei Hinsicht interessant und beeindruckend. Vor allem der Vergleich zum heutigen Schulsystem ist beeindruckend und zeigt, auf welchem hohen Niveau wir kritisieren. Dabei sollten wir zufrieden sein. Ein Unterricht, bei dem man eine Ideologie eingetrichtert bekommt, ist vorbei. Wir werden frei und selbst denkend erzogen. Wir genießen viele Privilegien, wie freie Schulwahl und die Möglichkeit zwischen Werkreal-, Realschule oder Gymnasium zu wählen. Wir haben freie Aufstiegschancen und Berufswahl. Anders als Albert Gohl, dem von der damaligen Agentur für Arbeit ein Beruf (Zimmermann) zugeteilt wurde. Wir leben als freie Bürger, die keine Angst vor Verfolgung, Krieg, Hunger haben müssen. Wir haben die Möglichkeit, das Bestmögliche aus unserem Leben rauszuholen. Albert Gohl legte uns nahe, dass wir diese Chancen unbedingt nutzen sollten.“

 (Elin Bayer, damals 9a)

Albert Gohl als junger Zimmermann

Nachtrag:

Bei meinem nächsten Treffen mit meinem Opa, ist es ihm sehr wichtig, mir eine weitere Erinnerung mitzuteilen, die er bei dem Interview vergessen hat. Da gedruckte Zeitungen direkt nach dem Krieg noch verboten waren, habe es in der Unterführung nach Untertürkheim eine Wandzeitung gegeben. Bei der Kapitulation Japans am 2. September 1945 seien dort folgende Worte zu lesen gewesen, Rot auf Weiß:

„Frieden auf Erden. Nie wieder Krieg!“

Natürlich weiß mein Opa, dass sich diese Hoffnung nicht bewahrheitet hat. Trotzdem ist dies ein Wunsch, den er wahrscheinlich mit jedem Kriegsüberlebenden teilt.